Allein schon was ihre Patronate betrifft, hat die Radegundiskapelle, auch Holzkirchlein genannt und am Hang des südlichen Wernufers oberhalb von Müdesheim gelegen, eine bewegte Geschichte. 1593 wurde das Gotteshaus St.-Ottilien-Kirche genannt. Erst später erhielt es seinen heutigen Namen. Eine Sage erzählt von einer letzten Dienerin der heidnischen Göttin Arina, die sich Radegunde nannte. Sie soll sich dem Christentum zugewandt haben und als Heilige verehrt worden sein. Später geriet diese Ortsheilige in Vergessenheit und man wählte dafür eine namensgleiche – fränkische – Heilige zur Patronin für das Kirchlein.
Die heilige Radegundis
Radegundis wurde 518 als Tochter des Thüringer Königs Berthachar geboren. Bei der Besiedelung Thüringens durch die Franken wurden sie und ihr jüngster Bruder 531 gefangengenommen und in das heutige Frankreich verschleppt. Beide hatten eine christliche Erziehung genossen. Getauft hat sie der heilige Medardus, Bischof von Noyon. Radegundis führte ein Leben in strengster Armut und war den Kranken und Armen Mutter und Helferin. 538 zwang sie König Chlotar zur Ehe; sie wurde in Soissons mit ihm getraut. Nun gründete sie ein Haus der Barmherzigkeit für arme und kranke Frauen. Sie half, wo sie konnte. Unter dem königlichen Purpur soll sie ein Büßergewand getragen haben. Sie litt zunehmend unter der Unfruchtbarkeit ihrer Ehe und den strengen Sitten am Königshof. Der Gedenktag der heiligen Radegundis ist ihr Sterbetag, der 13. August.
Heilung für kranke Kinder
Das erste schriftliche Zeugnis über diese Kapelle stammt aus dem Jahr 1595: Darin wird berichtet, dass schon seit vielen Jahrzehnten eine große Wallfahrt hierherkomme und kranke Kinder auch von weit her viele Meilen getragen werden, um an dem Brünnlein gebadet zu werden. Der Brunnen ist heute verschwunden. Zeugnis von Heilungen gaben zahlreiche Arme, Beine und Wickelkinder aus Wachs, die in der Kapelle hingen. Das Volk bestätigte in einer Sage, dass früher ein Brünnlein vorhanden war, und dass kranke Kinder in dem Wasser Heilung fanden. Wenn beim Baden das Wasser klar war, blieb das Kind gesund, wurde das Wasser trübe, war man sicher, dass es sterben würde.
Zu diesem Zeitpunkt gehörten zur Kapelle Wiesengrundstücke auf Reuchelheimer und Heugrumbacher Gemarkung. Um 1600 wurde das Kirchlein als ein „viereckiges, gar schlecht und kleines, doch von Mauerwerk gemachtes Kirchlein, das in der Breite oder Weite nicht mehr als vierzehn und zehn Schuh (ein Schuh enspricht etwa 30 Zentimetern) hoch” beschrieben. Im Inneren war ein Altar mit zwei Flügeln, an dem die heiligen Radegundis als Gemälde vorhanden war. Das Kirchlein war auch mit einer Türe versehen. Um diese Zeit muss es ziemlich verfallen gewesen sein.
Schultheiß Johann Burkard von Reuchelheim, der mit Eva Klüspies von Müdesheim verheiratet war, setzte es 1681 wieder instand und erweiterte es durch den Anbau eines Schiffes. Schon sechs Jahre später war es in einem vernünftigen Zustand. Mitte des 18. Jahrhunderts fanden in der Kapelle Renovierungsarbeiten unter Beteiligung des bekannten Malers Johann Peter Herrlein statt. Um diese Zeit, genau um 1740, wurde eine Biografie der heiligen Radegundis erstellt. Das Wallfahren zu ihr kam wieder groß in Mode. Vor dem Bild der Heiligen zündeten die Besucher Kerzen an und nahmen diese als Mittel gegen Fieber mit nach Hause. 1761 hatte die Radegundisstiftung ein Kapital von 547 Gulden, einem Pfund und 21 Pfennigen. Dies bedeutete eine jährliche Zinseinnahme von 27 Gulden.
Schließung und Wiedererstehen
Wie viele andere christlichen Institutionen auch, traf die Radegundis-Kapelle 1803 ein herbes Geschick: Im Rahmen der Säkularisation wurde sie für über zwanzig Jahre geschlossen, obwohl die damaligen Herrscher, die Wittelsbacher, als sehr katholisch galten. Ab 1829 erfreute sich die Kapelle eines vollkommenen Ablasses, der häufig erneuert wurde. Er konnte von allen Gläubigen gewonnen werden, die an dem auf das Fest Maria Himmelfahrt folgenden Sonntag die Kapelle besuchten und die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllten.
Der Urenkel Johann Burkards, Jakob Klüspies aus Würzburg, renovierte 1845 die Kapelle, die in den Jahrzehnten davor nicht mehr gepflegt worden war, wieder. Auch 1879 erfolgte eine große Restaurierung.
Noch 1880 zogen viele Wallfahrer am Fest der Heiligen, am Sonntag nach Maria Himmelfahrt, in Prozessionen von der Pfarrkirche zur Kapelle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzählten die Mütter aus Reuchelheim und Müdesheim ihren älteren Kindern, dass das Neugeborene aus dem Brünnlein bei der Radegundiskapelle geholt worden war. Am 4. Juli 1895 wurde neben der Kapelle eine Lourdesgrotte eingeweiht; 1928 erhielt die Kapelle zwei neue Glocken, die im Ersten Weltkrieg zum Einschmelzen abgegeben werden mussten.
Eine weitere große Renovierung erfolgte im Jahr 1960 nach den Vorschlägen des bischöflichen Bauamtes. Das schöne Barockaltärchen zeigt ein Gemälde, auf dem Radegundis dem Kaiser Justin II. (569) den geschenkten Kreuzpartikel zeigt. Im Hintergrund ist die Kirche in Poitiers zu sehen, wo sich das Grab der Heiligen befindet. Die beiden Seitenaltärchen wurden entfernt, weil sie – nach damaliger Auffassung – künstlerisch wertlos waren. Die Renovierung konnte mit rund sechstausend Mark erfolgen, wobei natürlich ein sehr hohes Maß an Eigenleistung eingebracht wurde. Für die 1973 erfolgte Renovierung stellte die Jagdgenossenschaft Müdesheim ihre sämtlichen Einnahmen in Höhe von 4500 Mark zur Verfügung.
Aufwändige Renovierungen
Auch unter Pfarrer Engelbert Braun und Kirchenpfleger Richard Keller gab es für die Radegundiskapelle drei große Renovierungen: In den Jahren 1992 bis 1995 erfolgte die Außenrenovierung mit einem Kostenaufwand von 163000 Mark. Dieser folgte in den Jahren 1998 bis 2001 die Neugestaltung des Umgriffs der Kapelle für 167000 Mark. Dazu kamen noch 900 Arbeitsstunden von ehrenamtlichen Helfern. Die Innenrenovierung erfolgte in den Jahren 2005 bis 2006 und war mit 82000 Mark veranschlagt. Für die erste Renovierung war 1992 ein Förderkreis gegründet worden, zu dessen Vorsitzendem Hans Sauer gewählt wurde.
Wallfahrt heute
War auch das Wallfahren zur Radegundiskapelle bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein wenig aus der Mode gekommen, so wallte im Juli 2003 der Katholische Frauenbund mit über hundert Teilnehmern zur Kapelle. Der Kreuzweg mit seinen vierzehn Stationen zur Kapelle entstand zwischen dem 31. August 1872 und dem 26. Juli 1873. Er soll auf ein Gelöbnis der Müdesheimer zurückgehen: Als im Bruderkrieg 1866 die Preußen bereits im Bachgrund waren, schworen die Müdesheimer, einen Kreuzweg zur Kapelle zu bauen, wenn sie keine Kriegsfolgen zu beklagen hätten. Zur Errichtung wurde ein Komitee gebildet, das aus Bürgermeister Johann Weißenberger, Pfarrer Philipp Karl Kleinhenz, Stephan Lamprecht als Kassier, Gemeinderat Georg Schneider, Kirchenpfleger Georg Sauer, Sebastian Sauer und Georg Rath bestand.
Die Stationen stammen von dem Karlstadter Bildhauer Franz Schuler. Sie kosteten 830 Gulden und waren aus Binsbacher Sandstein gefertigt. Die Summe wurde von der Gemeinde Müdesheim bezahlt, dürfte jedoch wahrscheinlich durch Spenden eingesammelt worden sein. Wie die Chronisten schreiben, haben die Stationen den Kappellenbesuch neu belebt.
Dieser Weg war 1960 kaum noch begehbar. Im Rahmen der Renovierung der Kapelle wurde angeregt, auch diesen wiederinstandzusetzen. Erst 2008, nach fünfjährigen Arbeiten, wurde der Kreuzweg durch Weihbischof Helmut Bauer wieder gesegnet; für die Renovierung waren rund 88000 Euro aufgewendet worden.
Günther Liepert